Gegen die Leibeigenschaft. Die Reformation als Bauernrevolte

1 / 3
1
Einleitung
Gegen die Leibeigenschaft. Die Reformation als Bauernrevolte
Spitalarchiv, C, 2, fol. 31v

Bei diesem Text handelt es sich um einen Ausschnitt aus einem Zinsbuch von 1448 des städtischen Spitals in St. Gallen. Das Spital war – wie ein Kloster oder Adliger – Grund- und Leibherr und verlieh seine Güter gegen Abgaben an Bauern. Die Abgaben (Natural- und Geldzinsen, Zehnten sowie Forderungen, die sich von einer persönlichen Bindung an die Herrschaft ableiteten) wurden jedes Jahr vom Spitalschreiber registriert. Dadurch entstand eine von 1440 bis ins 18. Jahrhundert erhaltene Serie der Zinsbücher. Diese genaue Buchführung diente dem Spital für die Kontrolle der Zahlungen und Schulden seiner Bauern. Der Textausschnitt zeigt, wie Bauern des St. Galler Rheintals sich weigerten, ihre Leibeigenschaftsabgabe an das Spital abzuliefern. Die sogenannte Fasnachtshenne, ein Huhn, das die Untertanen jährlich um die Zeit der Fasnacht an ihre Herrschaft abgeben mussten, war das typische Symbol der persönlichen Unfreiheit: Wer diese Fasnachtshenne seinem Herrn gab, anerkannte seinen eigenen Status als dessen Leibeigener. Als Leibeigener konnte man ohne Einwilligung seiner Obrigkeit niemanden heiraten, der nicht dem gleichen Herrn unterstand; zudem durfte man nicht unerlaubt aus dessen Herrschaftsgebiet wegziehen. Die fünf Genannten – Uli Dietzi, Zängerli, Hans Maiger, Mathies Bilchenveld und Üli im Löchli – waren nur einige von mehreren Rheintaler Bauern, die Reben des Sanktgaller Spitals bewirtschafteten und zu Leibeigenschaftsabgaben verpflichtet waren. Während sich das Spital als Leibherr bei den ersten vier nicht durchsetzen konnte, da diese – wie es explizit mit „Non vult dari“ am linken Rand heisst – das Leibhuhn nicht geben wollten, scheint der letztgenannte Üli im Löchli eingelenkt zu haben. Er anerkannte schliesslich seinen Leibeigenenstatus, wie aus seinem Bekenntnis „Wil gen“ im Sinne von „er will die Fasnachtshenne geben“ zu schliessen ist. Die lateinische Formulierung im Infinitiv Passiv „non vult dari“, die sinngemäss mit „man will das Leibhuhn nicht geben“ übersetzt werden kann, ist programmatisch zu verstehen: Dietzi, Zängerli, Maiger und Bilchenveld revoltierten gegen die Leibeigenschaft, sie wollten grundsätzlich nicht, dass das Spital eine Abgabe erhielt, welche ihre persönliche Abhängigkeit symbolisierte. Ihr Widerstand war nicht nur auf das aktuelle Rechnungsjahr 1448 beschränkt, sondern fundamental. Die Tatsache, dass sie bereits in vergangenen Jahren die Fasnachtshenne verweigert hatten, bestätigt dies. Daraus ergibt sich der Schluss, dass Dietzi, Zängerli, Maiger und Bilchenveld den vom Spital gegenüber ihnen geltend gemachten Leibeigenenstatus nicht anerkannten. Was hier 50 Jahre vor der Reformation noch als gewaltlose Renitenz Einzelner gegenüber ihrer Herrschaft bezeichnet werden kann, entwickelte sich in der Reformationszeit zu einer politischen Forderung von Untergebenen gegenüber ihren Herren, die in den sogenannten Bauernkrieg mündete.


2
Übung
Gegen die Leibeigenschaft. Die Reformation als Bauernrevolte
Zoom Level:
1
2
3
Resultat
Gegen die Leibeigenschaft. Die Reformation als Bauernrevolte
Die Transkription lautet:
Non vult dari. Uli Dietzi sol I Fasnahthennen de 48. Non vult dare.
Non vult dari. Zängerli sol V Fasnahthennen de 48 et de preteritis. Non vult dare.
Non vult dari. Hans Maiger usß Gerswendi sol II Vasnahthennen de 48 et de preteritis.
Non vult dari. Mathies Bilchenveld sol I Vasnahthennen de 48 et de preteritis etc.
Wil gen. Üli im Löchli sol IIII Fasnahthennen de 48 et de preteritis etc.
Erörterung:
Man will nicht geben. Uli Dietzi soll 1 Fasnachtshuhn geben vom Jahr 1448. Er will es nicht geben.
Man will nicht geben. Zängerli soll 5 Fasnachtshühner geben vom Jahr 1448 und von vergangenen Jahren. Er will sie nicht geben.
Man will nicht geben. Hans Maiger aus der Gerschwendi soll 2 Fasnachtshühner geben vom Jahr 1448 und von vergangenen Jahren.
Man will nicht geben. Mathies Bilchenveld soll 1 Fasnachtshuhn geben vom Jahr 1448 und von vergangenen Jahren.
Er will geben. Üli im Löchli soll 4 Fasnachtshühner geben vom Jahr 1448 und von vergangenen Jahren.

Die Bodenseeregion war lange vor dem Ausbruch des Bauernkriegs ein politisch unruhiges Gebiet gewesen. Die Bauern hatten sich schon im 15. Jahrhundert mehrfach gegen ihre Herren erhoben, beispielsweise in den Appenzeller Kriegen 1403 und 1405 gegen den Abt von St. Gallen. Ein überregionales politisches Programm bestand aber zu jener Zeit noch nicht. Erst mit den sogenannten Bauernkriegen im Jahr 1525 entstand eine umfassende, revolutionäre Aufstandsbewegung des "gemeinen Mannes" – hier verstanden als die Bauernschaft. Sie erfasste innert kurzer Zeit Teile der Schweiz, Süd- und Mitteldeutschlands. Die Aufständischen der verschiedenen Regionen standen miteinander in Kontakt und verfügten mit den im März 1525 erschienenen "Zwölf Artikeln gemeiner Bauernschaft" über ein breit akzeptiertes Manifest. Dabei handelte es sich um eine an die Herren gerichtete Beschwerdeschrift, die in verschiedenen Drucken verbreitet wurde. Diese erfolgreiche reformatorische Flugschrift erschien anonym. Vermutlich entstanden die Zwölf Artikel in Memmingen. Neben den lokalen Bauern könnte mit dem Memminger Pfarrer und Reformator Christoph Schappeler auch ein gebürtiger St. Galler mitgewirkt haben. Die in zwölf Punkten aufgelisteten Beschwerden der Untertanen an ihre Herrschaft umfassten nebst religiösen vor allem politische und wirtschaftliche Aspekte. Gefordert wurden unter anderem das Recht der Wahl und Abwahl der Pfarrer durch die Gemeinde, die freie Jagd in Wäldern und Gewässern, welche der Adel für sich alleine beanspruchte, sowie die Einhaltung von Abmachungen in Verträgen. Zudem sollten an die Herrschaft zu leistende Abgaben und Dienste nicht willkürlich erhöht werden dürfen. Die revolutionärste Forderung war jene der Abschaffung der Leibeigenschaft. Diese sozialen und politischen Forderungen wurden eng mit den religiösen Argumenten der Reformation verknüpft. Die Zwölf Artikel berufen sich wiederholt auf die Bibel, insbesondere bei der Forderung der Abschaffung der Leibeigenschaft: Es sei der falsche Brauch entstanden, uns für Eigenleute zu halten. Christus habe alle Menschen durch seinen Tod erlöst. Es stehe in der Heiligen Schrift, dass wir "frey seyen und wöllen sein". Die Bauernaufstandsbewegung erfasste schnell auch die Ostschweiz. Am 1. Mai 1525 versammelten sich in Lömmenschwil Vertreter von Gemeinden aus dem Umland der Stadt St. Gallen. Die Beschwerden der ländlichen Bevölkerung richteten sich gegen den Abt von St. Gallen als ihren Landesherrn. Eine ihrer Forderungen betraf – wie bei den Zwölf Artikeln aus dem süddeutschen Memmingen – die Abschaffung der Leibeigenschaftsabgaben. Die Fasnachtshennen werden in der Beschwerdenliste explizit erwähnt: Man habe noch nie verstanden, warum man diese abgeben müsse. Auch die St. Galler verknüpften in ihrer Beschwerde Politik und Religion: So sei jetzt durch die Gnade und Hilfe Gottes mit der Heiligen Schrift klar an den Tag gebracht worden, dass Abgaben beim Tod eines Angehörigen und Fasnachtshennen, die einer von seinem Leib geben müsse, weder im Einklang mit Gott noch mit dem Recht gefordert werden mögen, sondern dass dies ganz unchristlich, gegen die Lehre und das Wort Gottes und gegen die christliche, brüderliche Liebe sei. Was hatten die Bauern in Deutschland und der Eidgenossenschaft mit ihren Beschwerden erreicht? Die Reformatoren Luther und Zwingli stützten sie nicht. Luther sah in der bäuerlichen Berufung auf das Evangelium eine ungerechtfertigte politische Instrumentalisierung der Bibel. Seine Schrift mit dem Titel "Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern" mündete in einen Appell an die Obrigkeiten, solche Bauern zu bekämpfen. In der Schlacht bei Frankenhausen in Thüringen am 15. Mai 1525 sollen von rund 6'000 Bauern 5'000 getötet worden sein. In der Ostschweiz verlief die Bauernrevolte zwar unblutig, aber auch hier drangen die Untertanen mit ihren Forderungen gegenüber der Herrschaft nicht durch. Am 17. und 21. Juli 1525 wies ein in Rapperswil aus Abgeordneten der eidgenössischen Orte Zürich, Luzern, Schwyz und Glarus bestehendes Gericht die Beschwerden der St. Galler Bauern mehrheitlich ab. Die Bauernrevolte in der Reformation war eine kurze Episode; die Befreiung eines Grossteils der Menschen Europas aus der Untertanenschaft war eine lange Entwicklung, die erst mit der Französischen Revolution im 19. Jahrhundert ihr Ziel erreichte.
Unsere Website verwendet Cookies, um Ihnen das beste Online-Erlebnis zu bieten. Durch die Nutzung unserer Website akzeptieren Sie die Verwendung von Cookies in Übereinstimmung mit unseren Datenschutzbestimmungen.
OK!