Nur das Wort Gottes: St. Gallen führt das Schriftprinzip ein

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Einleitung
Nur das Wort Gottes: St. Gallen führt das Schriftprinzip ein
Altes Archiv, Ratsprotokoll 1518-1528, fol. 82v

Der grosse Rat entschied am 4. April 1524, dass die Pfarrer der St. Laurenzenkirche nur noch auf der Grundlage der Heiligen Schrift – der Bibel – predigen sollten. Dies bedeutete für die Stadt die Einführung des sogenannten Schriftprinzips und war gleichsam der erste Schritt der städtischen Obrigkeit zu einer politischen Einführung der Reformation in der Stadt. Die Rückkehr zum Gotteswort, zum reinen Evangelium, war ein Kernanliegen der Reformation. Der Glaube sollte nur auf dem göttlichen Wort, welches allein in der Bibel zu finden war, beruhen. Alle christlichen Bräuche, Bestimmungen und Gesetze, die aufgrund menschlicher Auslegung und Interpretation in den vorangegangenen Jahrhunderten zu denjenigen in der Heiligen Schrift hinzugekommen waren, waren demnach abzulehnen. Dies bedeutete u.a. die Aufgabe des Zölibats für Geistliche, die Ablehnung des Papsttums, die Abschaffung der Messe, der Beichte sowie der Absolution und vieles mehr. Die Anweisung an die Geistlichen der St. Laurenzenkirche, nur noch nach dem Evangelium zu predigen, war noch kein radikaler Bruch mit all diesen Traditionen. Allerdings bedeutete sie einen ersten Schritt, auf welchen bei konsequenter Auslegung der Bibel die Umsetzung der Reformation mit all ihren Anliegen folgen musste. Insgesamt waren sechs Geistliche an der St. Laurenzenkirche tätig. Vor allem Benedikt Burgauer, der Pfarrer der Kirche, und sein Helfer Wolfgang Wetter waren für die Predigten in der Kirche zuständig. Sie waren von der neuen Vorschrift besonders betroffen. Deshalb erkundigte sich Burgauer beim Rat, ob er einige Bräuche weiterhin beibehalten oder nur streng auf dem Wort beharren solle. Im Ratsprotokoll ist auf diese wichtige Frage leider keine Antwort überliefert. Die Frage zeigt aber, dass vieles in der Auslegung der Bibel nach reformatorischen Gesichtspunkten noch unklar war. Dies zeigt sich auch in der Anweisung an die Prediger, sie sollten sich betreffend Gotteswort und Beichte einig sein. Die reformatorische Deutung der Heiligen Schrift war zu dieser Zeit in vielerlei Hinsicht noch nicht festgelegt; dementsprechend sorgten Predigtinhalte immer wieder für Diskussionen und Aufruhr in der Bevölkerung. Durch eine klarere Vorgabe der schriftgemässen Predigt und durch die Gründung einer Überwachungskommission für Predigten – den sogenannten Vier – versuchte der Rat, solche Unruhen zu verhindern. Künftig sollten Bürger, die mit den Inhalten der Predigten unzufrieden waren, bei der Vierer-Kommission Anzeige über die fehlbaren Geistlichen erstatten. Gleichzeitig wurde jedem verboten, öffentlich und während der Predigt die Geistlichen zu stören, falls man nicht mit ihnen einverstanden war. Die Geistlichen sollten auf eine Anzeige hin von der Vierer-Kommission befragt und verhört werden, um zu eruieren, ob ihre Aussagen schriftgemäss waren oder nicht. Falls ihre Predigt dem göttlichen Wort widersprochen hatte, mussten die Geistlichen ihre Ansichten öffentlich widerrufen. Taten sie dies nicht, wurden sie von ihrem Amt suspendiert oder mussten ihren Beruf als Geistliche ganz aufgeben. So wollte man den Frieden und die öffentliche Ordnung in der Stadt wahren.


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Übung
Nur das Wort Gottes: St. Gallen führt das Schriftprinzip ein
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Resultat
Nur das Wort Gottes: St. Gallen führt das Schriftprinzip ein
Die Transkription lautet:
Grosß Rat uff Mentag
nach Quasimodo anno 1524 4. April
Item zuvermidung Zwitracht sollend alle Priester uff
S Lorentzen dz hailig Evangelium predigend clar unnd
luter, wie sy das mit der biblischen Geschrifft erhalten
mögen, unnd das sy niemand umm ir Predig beschryen
noch ze Red setzen, sonnder ob yemand gedunckt, dz ainer
ungeschickts prediget hat, mag derselbig für die Vier
keren unnd inen solhs fürhalten. Die sollend denn nach
dem Priester schicken, den hören unnd ob er unrecht funden,
wurde man in haissen widerrüffen oder stillston
oder die Orden haissen strichen. Welicher aber söllichs
nit det unnd ain Priester zuo Red stalte, scholte oder bschar
bschruwe, den wurd man straffen nach sinem Verschulden.
Item deen Priestern daruf sollichs furgehalten, das sy
ainig syend im Gotzwort unnd Picht.
Erörterung:
Grosser Rat auf Montag nach Quasimodo im Jahr 1524 (4. April 1524)
Zur Vermeidung von Zwietracht sollen alle Priester an der St. Laurenzenkirche das heilige Evangelium klar und rein [luter] predigen, so wie sie es mit der Heiligen Schrift begründen können. Und niemand solle ihre Predigt anzweifeln [beschryen] oder sie (die Priester) zur Rede stellen, sondern, falls jemand denkt, einer predige falsch [ungeschickts], soll derjenige vor die Vier (eine Kommission bestehend aus vier Männern, die für die Überwachung der Predigten zuständig war) kommen und ihnen solches anzeigen [fürhalten]. Diese Vierer sollen dann nach dem Priester schicken und ihn verhören. Und wenn er nicht recht gepredigt hat [unrecht funden], dann wird ihm befohlen, zu widerrufen oder stillzustehen (in den Ausstand zu treten) oder seinen geistlichen Stand [Orden] aufzugeben. Denjenigen aber, der solches nicht tut und einen Priester zur Rede stellt, schilt oder beleidigt [bschruwe], den werde man nach seinem Verschulden bestrafen. Auch wird den Priestern darauf (nach der Kundgebung des Entschlusses) gesagt, dass sie sich (untereinander) einig sein sollen in der Auslegung des Gotteswortes (der Bibel) und im Umgang mit der Beichte [Picht]

Die Stadt St. Gallen setzte das Schriftprinzip erst relativ spät, im April 1524, um. Zürich hatte diesen Beschluss bereits im Jahr 1520 gefasst. Auch das Land Appenzell hatte sich im Oktober 1523 zur Einführung des Schriftprinzips entschlossen. Die St. Galler Obrigkeit stand unter Druck, denn Teile der Bevölkerung sympathisierten schon seit längerer Zeit mit der Reformation. Vadian legte seit 1523 in einem geschlossenen, kleinen Kreis von Gelehrten die Apostelgeschichte in lateinischer Sprache aus. Sein Ziel war die Aufklärung der Geistlichen in St. Gallen. Die Bevölkerung blieb von diesen Unterrichtungen ausgeschlossen. Dafür hatten im Jahr 1523 Gastprediger, die nach St. Gallen kamen, sehr grossen Zulauf in der Bevölkerung. Von ihnen verlangten die Menschen nun die Auslegung und Erklärung der Schrift in der Öffentlichkeit. Balthasar Hubmaier aus Waldshut tat dies im April 1523 an mehreren Orten in der Stadt. Der Zulauf zu seinen Erläuterungen war sehr gross. Auch der gebürtige Sanktgaller Christoph Schappeler, Pfarrer in Memmingen, fand noch im selben Jahr grosses Gehör. Im November 1523 kehrte Johannes Kessler in seine Heimatstadt St. Gallen zurück. Er hatte anderthalb Jahre in Wittenberg – dem für die Reformation überaus bedeutenden Ort, an dem Luther gewirkt hatte – studiert und brachte seine Eindrücke nach St. Gallen mit. Zuhause angekommen, wurde er aber kein Geistlicher, sondern absolvierte eine Lehre als Sattler. Er stand damit in enger Beziehung zum Handwerk und zu den Zünften und sollte schon bald den Wissensdurst seiner Mitbürger nach dem Inhalt der Bibel stillen. Er begann seine öffentlichen "Lesinen" – seine Bibelunterrichtungen – im Januar 1524. Sie erfreuten sich sehr grosser Beliebtheit. Die Bevölkerung wurde so mit den Inhalten der Heiligen Schrift und mit deren Deutung bekannt. Dies klaffte mit den in der St. Laurenzenkirche gepredigten Inhalten immer weiter auseinander. Der St. Laurenzen-Pfarrer Benedikt Burgauer beispielsweise schwankte zwischen einer schriftgemässen Auslegung des Gottesworts und seinem alten Glauben an das Fegefeuer und die Erteilung der Absolution nach der Beichte. Er wurde denn auch zwei Monate nach der Einführung des obigen Beschlusses von seinen Aufgaben als Pfarrer suspendiert. Erst nach der Einführung des Schriftprinzips im April 1524 hatte die Obrigkeit die Möglichkeit, gegen solche Überzeugungen der eigenen Geistlichkeit vorzugehen und eine gewisse Einheitlichkeit der Predigten durchzusetzen.
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