Wiborada Mörli verteidigt die Schwestern von St. Leonhard

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Einleitung
Wiborada Mörli verteidigt die Schwestern von St. Leonhard
Ms 195, S. 15

Am Palmsonntag, dem 9. April 1525, überfiel eine Gruppe Männer aus der Stadt das Kloster bei St. Leonhard. Sie verlangten Einlass, um den Wein der Schwestern zu trinken. Nach den abweisenden Worten der Schwestern zogen sich die Männer zurück und holten Verstärkung in der Stadt. Am Abend stand die aufgebrachte Menschenmenge wiederum vor dem Kloster. Nach erneuter Weigerung der Schwestern, sie hereinzulassen, zertrümmerten die Anführer der Meute das Tor, und gegen 200 Menschen strömten in das Kloster, randalierten blindwütig in den Gebäuden und verlangten nach Wein. Das Treiben der wütenden Menschenmenge fand erst ein Ende, als die Schwestern den Stadtrat um Hilfe baten und der Unterbürgermeister in Begleitung von Vadian im Kloster auftauchte. Dieser konnte die Randalierer schliesslich dazu überreden, nach Hause zu gehen. Vadian war zu diesem Zeitpunkt zwar weder Bürgermeister noch Unterbürgermeister, aber trotzdem die zentrale Figur auf Seiten des Stadtrates. Die Vorsteherin von St. Leonhard, Wiborada Mörli, die Autorin des zitierten Berichtes, nennt ihn Doktor Watter; dies ist die Verkleinerungsform seines Nachnamens von Watt. Möglicherweise hat sie auf diese Weise ihrem Unmut über Vadian Luft gemacht.


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Übung
Wiborada Mörli verteidigt die Schwestern von St. Leonhard
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Resultat
Wiborada Mörli verteidigt die Schwestern von St. Leonhard
Die Transkription lautet:
Und fillent uber die Mur in, und do zerstieß
der Otmar Lütte das Hoff Tor zuo dem ersten.
Do kam wol II hunnder Man in Gartten, und do
zer stießent sy die Huß Tur an Mitten an zway.
Wie man inen Recht gebotten hat, do fiellent sy
so wüttent in das Huß, als ob an Bluotz Tropf der
erbermd nit in enne wer. Sy handleten unß und wolten
uber alle Schloß. Da waß kain Winckel so hoch noch
so tieff im Huß, sy wolten dar in, und wen man nit
behend uff schloß, so zer stießent sy die Schloß. Und
tatten all Trog und Trucken uff, und wurffent unß die
Better uff, und hatten große Liechter in den Henden,
und waß denech noch Taig. Do lut aine Sturm, do
wol III hunndert Man da waren und me den LX
Wiber. Do wolten sy zuo eßen und zuo trincken
han, do kunndent wir nit gnuog uß dem Ker tragen
mit Gelten und Amer. Sy fiellent selb in Ker und wolten
die großen Ker Tür zerstoßen und den Win uß
lon, do sp[rachen]: wir wend uch gnuog gen, non schutenn
in nit uß. Also weret es wol II Stund, das sy im
Huß wuotten wie die truncken Main, als sy warent.
Erörterung:
Und sie fielen über die Mauer und Othmar Lütte zerstiess das Hoftor als erster. Da kamen wohl 200 Männer in den Garten und zerstiessen die Haustür mitten entzwei. Als man ihnen mit einer Klage drohte [Recht gebotten hat], fielen sie so wütend in das Haus, als ob kein Blutstropfen Erbarmen in ihnen wäre. Sie misshandelten uns und wollten überall hinein [uber alle Schloß]. Es gab keinen Winkel im Haus, der zu hoch oder zu tief war, dass sie nicht dorthin wollten, und wenn ihnen nicht behände aufgeschlossen wurde, zerstiessen sie das Schloss. Sie öffneten alle Tröge und Trucken, rissen unsere Betten auf [wurffent ... uff] und trugen grosse Lichter in den Händen, obwohl es noch Tag war. Eine (Schwester) läutete Sturm, als gegen 300 Männer da waren und mehr als 60 Frauen. Sie wollten zu essen und zu trinken, doch wir konnten nicht genug aus dem Keller [Ker] hinaustragen mit Zubern [Gelten] und Eimern [Amer]. Sie drangen selber in den Keller [Ker] ein und wollten die grosse Kellertür zerstossen und den Wein (aus den Fässern) fliessen lassen, da sprachen wir: Wir wollen euch genug (Wein) geben, doch schüttet ihn nicht aus. Es dauerte [weret] wohl zwei Stunden, wie sie im Haus wüteten wie betrunkene Männer [truncken Main], was sie ja waren.

Ein Lebensideal von vielen Frauen war das einsame, zurückgezogene Leben ab von der Zivilisation; seit dem Hochmittelalter erhofften sie sich, auf diese Weise Gott näher sein zu können. Sie zogen sich deshalb in sogenannte Klausen zurück. Viele dieser Klausen entwickelten sich später zu Beginenhäusern, d. h. zu Häusern, in denen mehrere Frauen zusammenlebten, ohne einem Orden anzugehören. Diese Zwischenstellung zwischen Kloster und Welt machte sie angreifbar. Eines der vielen Beginenhäuser in St. Gallen war die untere Klause bei St. Leonhard. Da sie auf städtischem Boden lag, war sie dem Rat der Stadt St. Gallen unterstellt. Damit mussten sich die Schwestern auch den religiösen Vorschriften des Stadtrates unterwerfen, die sich mit der Reformation änderten. Die Nonnen, welche bei ihrem Glauben bleiben wollten, widersetzten sich vehement. Grosses Konfliktpotential bot auch die Tatsache, dass die Schwestern ihren Lebensunterhalt – neben dem eher bescheidenen Einkommen von Zinsen aus ihrem Bodenbesitz und Spenden – hauptsächlich mit der Herstellung von Leinwand verdienten. Die städtische Weberzunft, welche die Leinwandherstellung kontrollierte, fürchtete und bekämpfte diese Konkurrenz. Die Reformationsbewegung bedeutete das Ende der unteren Klause bei St. Leonhard. Dabei machten den Frauen nicht nur die Vorschriften des städtischen Rates zu schaffen, sondern auch die aufgebrachte Bevölkerung. Im Sommer 1524 begann der Stadtrat, sich in die Angelegenheiten der Klause einzumischen: Er war der Meinung, dass die Frauen ihr Vermögen nicht gut genug verwalteten und ihr Geld nicht richtig verwendeten. Mit der Begründung, nur das Beste für sie zu wollen, wurden den Schwestern immer mehr Auflagen gemacht, die immer einschneidender wurden: Zum Beispiel wurden sie gezwungen, ihre Urkunden – also die Verträge, welche ihren Besitz und ihr Vermögen auswiesen – dem Rat auszuhändigen. Später wurden sie gezwungen, den reformierten Gottesdienst zu besuchen und das ewige Licht in der Kirche zu löschen. Kurz darauf brachen städtische Angestellte die Altäre in der Kirche der Schwestern ab. Weniger diplomatisch als der Rat – zumindest zu Beginn des Konfliktes – ging die Bevölkerung mit den Schwestern um: Wütende Menschenmassen überfielen das Kloster mehrfach und füllten sich in den Kellern die Bäuche, wie das vorgestellte Beispiel verdeutlicht. Die Drangsalierungen von beiden Seiten – vom Rat wie auch von der Stadtbevölkerung – wurden über die Jahre immer intensiver, bis ein geregeltes Leben der religiösen Gemeinschaft nicht mehr möglich war und die Schwestern, eine nach der anderen, den Widerstand aufgaben und flüchteten. Die letzte Mutter der Gemeinschaft, Wiborada Mörli genannt Fluri, hinterliess uns ihr Tagebuch, welches sie von 1524 bis 1538 führte; es kann auch als Anklageschrift gegen das ungerechte Vorgehen des städtischen Rates gelesen werden. Wiborada starb im Jahre 1550. Die letzte Schwester, die bis zu ihrem Tod unter strengem Hausarrest in den Gebäuden der Klause ausharrte, starb erst 1576.
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